Es ist 6 Uhr früh, es ist fast schon hell in Malenovice im tschechischen Riesengebirge, jedenfalls hell genug, damit ich an der Startlinie des Lysohorský Ultra Trail in die Gesichter und auf die Körper von 182 anderen blicken kann – und erkenne, dass ich für diesen Sport, der sich Trailrunning nennt, wohl 30 Jahre zu alt und 30 Kilogramm zu schwer bin. Der Event ist weltbekannt in Tschechien, wie man mir sagt, es sind alle „local heroes“ dabei, und die tschechische Meisterschaft in dieser Sportart ist er überdies. Im Teilnehmerfeld befinden sich gezählte vier Ausländer, drei aus der Slowakei und ich.
Der LHUT ist nicht nur weltbekannt, sondern ikonisch. Er führt auf die Lysá Hora (zu Deutsch: Kahlberg), einer 1323 Meter hohen Erhebung, und dies nicht nur einmal, sondern im Ultra-Rennen vier Mal. Auf 67 Kilometer kommen somit rund 3700 Höhenmeter zusammen, vier Mal rund 800 Hm, und ein paar zwischendurch. Das Schöne – der Gipfel wird immer von einer anderen Seite in Angriff genommen. Das weniger Schöne – der Lauf ist sehr technisch und fordernd.
Aufgrund des kleinen Starterfeldes bin ich nach meinem schnellsten Kilometer (dem ersten, eh klar) und zwei weiteren tausend Metern de facto schon alleine unterwegs, nicht ganz am Ende, aber quasi. Das tut nichts zur Sache, ich habe meinen eigenen Plan und meine eigenen Zeitvorgaben. Die Cut-offs beim dritten und vierten Umlauf am Gipfel sowie im Ziel dürften mich vor keine allzu großen Herausforderungen stellen. Insgeheim spekuliere ich mit einer Endzeit zwischen 11 und 12 Stunden, das wäre eine Durchschnittspace von 10 Minuten und ein paar Sekunden pro Kilometer. Mal schauen.
Es ist Dynafit Tschechien mit Marketingleiter Karel Glogar an der Spitze, die mich zu diesem Wettbewerb im Dreiländereck Tschechien/Polen/Slowakei eingeladen haben. Die Autofahrt dauert rund dreieinhalb Stunden, von Wien aus ist man schneller dort als beispielsweise in Innsbruck. Glogar erklärt mir, dass Dynafit seit der ersten Edition als „generalni partner“ dabei ist, dass aber aufgrund von behördlichen und naturschutztechnischen Bestimmungen ein großer Event mit mehreren tausend Teilnehmer:innen nicht durchgeführt werden kann. „Dennoch ist es für unsere Marke wichtig, hier präsent zu sein“, hält er fest, wie gesagt – es ist ein ikonischer Event.
Ikonisch und episch hin oder her – es ist jedenfalls ein Lauf, der technische Schwierigkeiten zuhauf bietet. Auf der ersten Steigung sind es Millionen von kleineren und größeren, festen und losen Steinen, die es schwer machen, in einen Flow zu kommen. Na gut, denke ich mir, bergab mache ich die verlorenen Minuten wieder wett. Der Plan ist gut: geht aber nicht auf. Aus den Steinen werden Wurzeln und diese wieder zu Steinen. Es bleibt auf alle Fälle technisch, immer wieder bleibe ich an den natürlichen Hindernissen hängen und gerate ins Straucheln.
Nach dem zweiten Anstieg ist es dann im zweiten Downhill endlich soweit, und irgendwie hat es etwas Befreiendes. Bei Kilometer 30 bleibe ich an einer Wurzel hängen, schlage mit Nase und Stirn im Boden ein (ein Body-Boden-Check sozusagen) und liege auf dem Bauch im Dreck. Die Beine stehen angewinkelt in der Luft, Wadenkrämpfe machen die Lage nicht einfacher. Ein Pärchen schließt zu mir auf, er drückt mir die Krämpfe aus den Waden und will mir hochhelfen. „Gib mir noch eine Minute“, sage ich dankend doch ablehnend, sie eilen weiter, für die nächsten 15 Kilometer oder so sind wir dann nie mehr als 400, 500 Meter voneinander entfernt. Ich reflektiere den Sturz und bin sogar stolz darauf, mir einige Schrammen in Gesicht und Armen geholt zu haben – sie sind die Evidenz, dass ich nicht so langsam unterwegs gewesen sein kann.
Immer dann, wenn ich den Fuß des Berges erreicht habe, geht es ein paar Kilometer auf Asphalt- oder Forststraßen dahin, ehe der nächste Aufstieg erfolgt. Es ist ein Muster, so, wie es auch zu einem Muster wird, was ich an der Verpflegungsstelle auf der Lysá Hora zu mir nehme. Lauffreundin Claudia Sonntag hat mir Vorfeld des Wettbewerbs noch einige wichtige Tipps gegeben, die ich zum größten Teil auch umsetzen kann. Ich weiß, was ich will, wenn ich am Verpflegungszelt eintreffe – Wasser nachfüllen, einen Becher Cola trinken, eine Fingerspitze Salz zu mir nehmen, mit drei Keksen oder einem Stückchen Wurst die Labe wieder verlassen.
Da und dort laufe ich mit jenen Läufer:innen zusammen, die schon auf der dritten oder vierten Runde sind, oder mit jenen, die an einem der beiden anderen Wettbewerbe, dem Skyrace oder Supersky, teilnehmen. Ich weiß, dass der Sieger wohl die Hälfte der Zeit benötigen wird, die ich brauche – so what? 30 Jahre zu alt, 30 Kilogramm zu schwer – gib einfach dein Bestes.
Mein Ernährungskonzept funktioniert recht gut, jede Stunde ein Gel, jede dritte Stunde einen Riegel, ab der sechsten, siebten Stunde trinke ich mehr Iso als Wasser. Ich laufe in keinen Hungerast, dafür in einen jungen Tschechen, der seinen ersten Ultra bestreitet und sich davor fürchtet, die Cut-offs nicht zu schaffen. Ich rechne ihm vor, wie viel Zeit wir noch haben. Er schluchzt, dass ja alles so schwierig und technisch bleiben wird bis ins Ziel, wenn wir zum vierten Mal den höchsten Punkt erreicht haben werden, „den ich ohnehin nicht erreiche, vorher werde ich sterben.“ „Wenn du vorher stirbst“, antworte ich mit all meinem pädagogischen Fingerspitzengefühl und meiner Empathie, „dann brauchst du dir ja keine Sorgen darüber zu machen, wie herausfordernd es später sein wird.“
Ich ermuntere ihn aber auch, im Hier und Jetzt zu bleiben, anzunehmen und zu zelebrieren, was er, und nur er allein, wollte, und haue mit diesen schönen Sätzen herum, die ich im Internet, in den sozialen Medien und anderswo aufgreife. „Das hier ist ein Ultra und kein Marathon. Beim Marathon gehst du in die Hölle und bleibst dort, bis du das Ziel erreicht hast. Hier gehst du in die Hölle, und kommst zurück. Und gehst wieder in die Hölle, und kommst zurück. Und gehst wieder in die …“ „Ja, ja, ja“, unterbricht er mich.
Im letzten Uphill muss ich letztlich mehr auf mich als auf andere schauen, gehe mein Tempo, und er fällt zurück. An der Verpflegung – bei der es immer noch alles gibt, obwohl nur mehr auf die Nachzügler gewartet wird – sage ich den freundlichen und zuvorkommenden Helferinnen, dass hinter mir einer läuft, mit Nummer 106 oder so, und bitte sie: „Macht ihm Stress. Lasst ihn nicht niedersitzen. Wenn er sagt, er sei müde, sagt ihm, er kann sich im Ziel ausruhen. Fragt ihn, was er will, und haut ihn so rasch wie möglich aus der Verpflegungsstation raus.“ Es ist nicht immer leicht, mich zum Freund zu haben…
Die letzten vier, fünf Kilometer laufen gut, nach 12:45 Stunden bin ich als 126. von 131 Gewerteten im Ziel. Es ist eine etwas trostlose Stimmung, die Beach Flags von Dynafit, die uns in der Früh noch verabschiedet haben, sind schon abgebaut, es stehen der Zielbogen, die Zeitmatte und der Organisator, der mir die Finisher-Medaille in die Hand drückt und mich beglückwünscht. Ich kann nicht sagen, dass ich enttäuscht bin – weder vom Ergebnis noch vom Ambiente. Wenn ich das Ziel erreiche, bin ich zufrieden, egal, wie es da gerade aussieht. Dass ich langsamer war als erhofft: na vielen herzlichen Dank, lieber Trail! Da ist es schon mehr an dir als an mir gelegen. Und dass der Sieger 6:02 Stunden, für, zur Erinnerung 67 Kilometer und 3700 Höhenmeter gebraucht hat: ein Wahnsinn, oder? Marek Causidis hat einen UTMB-Index von 842, und ich wäre wirklich gespannt zu sehen, was Hannes Namberger oder Rosanna Buchauer auf diesem Trail laufen könnten.
Das Essen im Festzelt ist okay, das Bier – in Tschechien – eh super, die Dusche schnell, die Nacht nicht allzu lang. Ein wenig bedauere ich, den Ultralauf-Novizen nicht mehr gesehen zu haben, er ist rund 20 Minuten nach mir im Ziel eingetroffen. Jener, der mir bei meinem Sturz geholfen hat, ließ es irgendwann gut sein und war einer von 52, die ein „did not finish“ verzeichneten.
Muss man diesen Lauf gemacht haben? Darüber könnte ich wohl nochmal so viel schreiben. Um es einfach zu machen: ja und nein.
Nein. Es ist ein hartes Rennen, vergleichbar vielleicht mit dem Schneebergtrail, einem doppelten allerdings. Das muss man sich nicht unbedingt antun.
Und dennoch, ja! Es ist eines dieser kleinen, feinen so genannten „Grassroot Events“, die so weit weg sind von der schillernden Welt des UTMB, von großen bis sehr großen Veranstaltungen wie Corsa della Bora, IATF, GGUT. In Malenovice sind maximal 500, 600 Sportler:innen dabei, es entsteht eine Atmosphäre und eine Energie, die erlebt und aufgesaugt gehört.
Stand heute bin ich in Mai 2026 wieder dort, und zwei ULT-Vereinskameraden haben sich auch schon entschieden, mitzukommen. Wird es eine Herausforderung? Sicherlich. Ist es sie wert? Absolut! Wie heißt es denn so schön: „Du musst bereit sein, zu weit zu gehen, um zu erkennen, wie weit du gehen kannst.“
Mehr Infos: www.lhut.cz