Wer glaubt, dass es bei diesem Beitrag um den Wienerwald Ultra Trail geht, der (oder die) hat selbstverständlich Recht (steht ja auch im Titel, und der Content sollte der Headline ja gerecht werden), doch vor allem geht es um das, was bei einem Ultra-Lauf zu 50 % die Leistung beeinflusst: um die Ernährung.
Die anderen 50 Prozent verteilen sich laut Trailbeard Florian Grasel auf Körper und Geist, und allein den Riegeln und Gels mehr Bedeutung zuzusprechen als den Beinen sagt eigentlich alles aus. Ernährung ist das um und auf, wenn es um die wirklich langen Distanzen geht. Davon kann ich – der GGUT lässt grüßen! – und wohl viele andere des Ultra-Lauf-Teams Heustadlwasser ein Lied singen. Der Text ist ein bisschen lang geraten, aber keine Sorge, ein Kochbuch (außer jenes mit meinen eigenen persönlichen Rezepten) wäre immer noch dicker.
Aber der Reihe nach.
Der Wienerwald Ultra Trail, kurz WUT, wurde zum zweiten Mal ausgetragen, für die längste Distanz über 127,2 km und 4320 Hm hatten sich 30 Teilnehmer, darunter ein ULT-Trio gemeldet. Gelaufen werden musste (oder konnte) eine 42,4 km lange Schleife, wer wollte, konnte es nach einer oder zwei Runden auch wieder bleiben lassen.
Die Nahrungsaufnahme begann Stunden vor dem Start gegen 22 Uhr mit einem großen Teller Pasta – mezze maniche rigate des größten italienischen Nudelherstellers -, dann ging es für Erwin Ostry und mich Richtung Purkersdorf, fuhren bei Werner Wühl vorbei und weiter Richtung Start-Ziel-Gelände.
Der WUT ist eine familiäre Veranstaltung, die untertags sicher einiges zu bieten hat. Beim mitternächtlichen Ultra-Start waren wir indes unter uns: wir Läufer, und einige sehr bemühte und engagierte Organisatoren.
Mein erstes Ausrufezeichen, mit einem großen Smiley im Gesicht, setzte ich nach 200 Metern: Da lag ich an dritter Stelle des Feldes. Bedauerlicherweise konnte ich diese Position während der nächsten 127 Kilometer allerdings nicht verteidigen.
Was ich aber konnte, war, meine Ernährungsstrategie ohne Wenn und Aber durchzuziehen. So gut wie jede Stunde verbrauchte ich ein Gel, nach einer Laufzeit von 22:03 Stunden werden es schon 17 oder 18 gewesen sein. Ich trank rund fünf Liter Wasser, becherweise Cola und Iso – aber ich will an dieser Stelle noch nicht alles verraten.
Der Track war sehr gut markiert, grüne Punkte („grüne Pfeile sind nicht von uns“, hatten die Organisatoren gesagt) und reflektierende Bänder wiesen den Weg. Dennoch: Gottlob war ich mit Erwin unterwegs, der den Weg bereits kannte, denn in meiner Gedankenlosigkeit – oder sagen wir lieber: in meinem Flow – wäre ich bei der einen oder anderen Abzweigung garantiert vorbeigelaufen.
Die erste Runde bis kurz nach 6 Uhr früh stellte uns vor keine weiteren körperlichen Herausforderungen. Mental war ich zwischen Kilometer 30 und 40 im Tief. Was mach ich da? Was ist das für ein Unsinn? Schau dir den Erwin an, der kann laufen! Und das willst du noch zwei Runden machen?! Na gottlob kann ich es ja nach einer lassen…
Bis zum Start-Ziel-Durchlauf hatte sich mein Frust wieder etwas gelegt, verschwand auf die Toilette, griff bei der Labe wieder beherzt zu – Schokolade, Bananen, Apfelschnitte, Erdnüsse, was auch immer – und es ging raus in die zweite Runde. Werner Wühl hatte sich indes entschieden, es gut sein zu lassen, wurde in 6:27.02 Stunden 87. des Single WUT und 17. in der M50-Wertung.
Auf Erwin und mich warteten Herausforderungen unterschiedlicher Art. Auf einer leicht abfallenden Schotterstraße sinnierte ich darüber, wie sich eine Sub-20-Stunden-Endzeit ausgehen könnte. Instant Karma wollte mir dabei hilfreich zur Hand gehen und knallte mich auf den steinigen Untergrund. Nichts gebrochen, nur ein aufgeschlagener linker Ellbogen, für den ich Stunden danach noch mitleidige Blicke erntete. Ich blutete wie eine Sau (verzeiht den Ausdruck, der wird weiter unten noch wichtig.)
Mit einem Desinfektionsspray und einem Achselzucken war die Sache abgetan und weiter ging es. Fünf, sechs Kilometer später stellte sich Erwin an den Straßenrand und kotzte sich die Seele aus dem Leib. Wäre ich es gewesen, hätte es jeder verstanden. Nur: Erwin hatte seit Stunden nichts gegessen und getrunken!
Ich könnte mir nicht vorstellen, einen Marathon oder mehr zu laufen, ohne Flüssigkeit und andere Nahrung zu mir zu nehmen. Und dann laufe ich mit einem Freund, dessen Magen unter Belastung nicht so richtig, um nicht zu sagen: gar nicht, funktioniert. Er trinkt einen Schluck Apfelsaft – und übergibt sich. Wir machen eine zehnminütige Pause in der Hoffnung, dass dies die Magensäfte beruhigt – keine Chance. Bei idealem Laufwetter, aber dennoch in der Sonne dehydriert Erwin Ostry mehr und mehr und steht dennoch die zweite Runde durch. Ich ziehe meinen Hut, ich an seiner Stelle hätte mich bei einer der beiden Laben wohl abgemeldet.
Auf den letzten Kilometern des zweiten Drittels wird es mehr und mehr klar, dass es für Erwin kein drittes geben würde – ja, dass es unverantwortlich wäre, ohne Nahrungszufuhr nochmals 42 km und 1440 Hm laufen zu wollen, ohne es zu müssen. Für Erwin wird aus dem Triple ein Double WUT, den er in 13:18.14 Stunden als 16. beendet, und als Dritter der Altersklasse M50.
Freud und Leid liegen so nah zusammen. Ich finde es einerseits so schade, mit Erwin den Triple WUT nicht beenden zu können, umarme ihn und ermahne ihn, auf sich aufzupassen auf dem Weg nach Hause und sich gut zu regenerieren. Andererseits befinde ich mich selbst körperlich und mental im Hoch. Nur noch 42 Kilometer, sage ich mir jubelnd. Das wird was, das geht sich eventuell unter 21 Stunden aus!
Meine Frau Karin, die nach Purkersdorf gekommen war, begleitet mich auf den ersten zwei Kilometern, dann geht es wieder in den Wald und ich bin ganz bei mir. Esse meine Gels, genehmige mir zwischendurch ein Mars oder einen Riegel (dass ich die Drops nicht anrührte verwunderte mich im Nachhinein dann aber doch), dosiere das Tempo, komme sehr gut voran. Ich laufe auf Erich auf, ihn habe ich 2017 beim Ötscher Ultramarathon kennengelernt und seitdem aus den Augen verloren, und ich beschließe, mit ihm ein paar Kilometer zu bestreiten und Gedanken auszutauschen. Die zwischenmenschliche Komponente ist mir in diesem Moment wichtiger als eine bessere Finisher-Zeit.
Bei der vorletzten Labe frage ich keck, ob es denn nicht auch Bier gäbe. Die beiden jungen Frauen, die ehrenamtlich einen ganz tollen Job machen, sehen sich an. „Ja, haben wir…“ „Und, äh, könnte ich auch eines bekommen?“ Sie tauschen wieder die Blicke. „Na gut, aber nicht weitersagen.“ Ich bekomme mein – nicht alkoholfreies – Bier, und was passt am besten dazu? Richtig, Schwarzbrot, Käse, Wurst. Ich greife zu, als wäre ich bereits im Ziel. Ich habe eben einen Schweinsmagen!
Erich und ich entscheiden in weiterer Folge, dass jeder für sich laufen soll, auch, weil er sich nicht sicher ist, die Zeitvorgabe zu erfüllen (die er dann aber locker einhält). Ich komme weiter gut voran, die Gels werden weniger, aber sie werden reichen. Bei der letzten Labe wird zum letzten Mal der Trinkbeutel aufgefüllt, man meint es gut mit mir und schüttet eine ganze Flasche stillen Mineralwassers hinein. Und weil ich wieder einmal unaufmerksam bin, kommt kein „stopp, stopp“ über meine Lippen. Noch einmal gibt es Schokolade, Cola, Bananen, Iso, noch einmal wird die Stirnlampe hervorgezogen, um die letzten zehn, elf Kilometer zu bewältigen.
Fünf Minuten vor mir hatte Christoph den Verpflegungsposten verlassen, und ich bemühe mich redlich, das Loch zu ihm zu schließen. Doch er hat es auch eilig, mir gelingt es kein einziges Mal, ihn auch nur aus der Ferne zu sehen.
Während ich die letzten Serpentinen eines Spazierweges Richtung Purkersdorf hinuntereile, schlägt es vom Kirchturm 22 Uhr. Meine Trauer darüber hält sich in Grenzen. Zu viel ist in den letzten Stunden passiert, als dass ich mich jetzt ärgern würde wollen über irgendeine Zeitvorgabe, die es nie gegeben hat. Ich wollte finishen, und ich werde finishen.
Sechs Minuten nach Christoph überquere ich die Ziellinie, in 22:02.59 Stunden, als Elfter von 13 Triple-Gewerteten und als Dritter der AK M50 (mein erster Podestplatz, übrigens!). Von Party keine Spur, zwei Personen der Organisation sind da und ein Herr, der Fotos macht. Kurz reiße ich lächelnd die Arme in die Höhe, und dann war mein WUT 2019 vorbei. Der Herr gibt die Kamera weg – und ich erkenne Erwin. „Solltest du nicht im Bett sein?“, frage ich ein wenig vorwurfsvoll. „Mir geht’s wieder gut, und weil du ja mit mir nach Purkersdorf gefahren bist, wollte ich dich auch wieder zurückbringen.“
Sitzen im Wagen fällt schwer, doch die Freude überwiegt. Geschafft! Mein erster Ultra über 100 oder mehr Kilometer: geschafft!
Zu Hause geht das große Fressen klarerweise weiter: Bier, Brot, Käse, Schokolade. Ich döse vor mich hin und träume einen wunderschönen Traum.
Jenen vom Ultra Trail Lago d’Orta, nur 99,7 Kilometer lang, mit 6210 Höhenmetern bestückt. Start um 23 Uhr am kommenden 18. Oktober. Aber ganz wichtig: mit neun, ja: neun Verpflegungsposten!