Eine Geburt ist wie ein Marathonlauf, habe ich gehört, bevor L1 geboren wurde. (Das muss ein Mann gesagt haben. Irrtum.) Ich wage zu behaupten, dass ich jetzt Erfahrung mit beidem habe. Ich kann auch sagen, dass beides geplant werden kann. Jedoch kann bei einer Geburt alles passieren, wobei die Schritte eines Marathonlaufs planbar sind. Zumindest im Kopf. 
 
7:03 Uhr: Ein wunderschöner Sonnenaufgang. Ich weiß, dass ich diesen Blick heute endlich, nach langer Zeit, alleine genießen kann, und zwar so lange ich will. Ich habe meinen Tee mit kaltem Wasser aufgegossen, damit ich ihn schnell trinken kann, aber es wird mein Tag sein. Alleine. Allein mit meinen Gedanken und Gefühlen, mit der Morgenbrise, dem Geruch des Wassers und den warmen Sonnenstrahlen, die durch die Regenwolken dringen. Ich bin unterwegs. Auf einem Weg, auf dem ich heute neben all meinen Lauffreunden und Laufbekanntschaften auch ein wenig an meine eigenen Grenzen und Ängste stoßen werde. Anstatt auf die Bedürfnisse meiner Söhne zu hören, höre ich heute auf die Signale meines eigenen Körpers. Ich habe nichts anderes zu tun, als in angemessenen Abständen zu essen und zu trinken, auf meinen Puls zu achten und zu laufen.
 
8:30 Uhr: Ich beobachte das Wetter und meine Herzfrequenz. Letztere ist gerade um zehn höher als von P. vorgeschlagen. Den Kindern zuliebe wäre es schön, wenn es nicht regnen würde, meinem Puls zuliebe, wenn es nicht sonnig wäre.
 
In dieser Morgendämmerung denke ich daran, was ich alles für eine Tasse Tee in Ruhe geben würde, wenn ich mit einem der Kinder gegen 4 oder 5 Uhr aufstehe: einfach nur dasitzen und den Sonnenaufgang und den Blick auf das Raxgebirge von unserer Wohnung aus genießen. 
 
9:30: Ich versuche, nicht daran zu denken, wann ich wegen der Jungs stehenbleiben muss, ich hoffe, es geht ihnen gut. Ich gewöhne mich langsam an das Laufen. Ich höre auf, mir Gedanken über meine Herzfrequenz zu machen, irgendetwas wird schon kommen. Ich rechne schnell aus, wann ich die Marathondistanz absolviert haben werde. Und ich denke nicht darüber nach, wie viele Stunden noch vor mir liegen.
Ich weiß genau, wann meine letzte solche längere "Auszeit" stattgefunden hat. Seitdem sind siebeneinhalb Monate vergangen. An jener Nacht wurde L2 geboren. Ein ähnliches und doch unvergleichliches Gefühlspaket. Ich werde heute noch viel Zeit haben, um Parallelen zu finden. Im Moment lerne ich diese Reise kennen, das Gefühl der neu gefundenen Freiheit, die bevorstehende Herausforderung, die Zeit alleine.
 
14:30 Uhr: Ich habe meine zweite kurze Stillpause mit L2 hinter mir. Bis zum Ende der Veranstaltung wird es noch zwei weitere dieser Pausen geben. L2 ist ganz begeistert vom Papa. Es war schon an der Zeit für diese Begeisterung. Und mein Puls ist im perfekten Bereich. Noch 4,5 Stunden. Es scheint eine unendlich lange Zeit zu sein.
 
Ich mag Regeln und Logik. Schon als Kind hab ich Mathematik gemocht. Vielleicht habe ich auch deshalb Jus studiert und bin Rechtanwältin geworden. Jetzt, wo der jahrelange Schlafmangel meinem Gehirn alle Funktionen entzogen hat und ich im Supermarkt einen Drei-Punkte-Einkaufszettel fünfmal durchlesen muss, war die einzige logische und verständliche Wahl eine Laufveranstaltung, bei der es nichts anderes zu tun gibt als Runden zu laufen. 3, 6 oder 12 Stunden lang. 
 
18:50 Uhr: Jedes Gesicht, jeder Zentimeter Steigung, jedes Zelt, der Spielplatz, die Brise der Luft und jedes Geräusch sind mir mittlerweile auf der 1,266 km langen Strecke im Aubad Tulln in der Nähe von Wien vertraut, auf der ich gerade die 73. Runde begonnen habe. Es bleiben mir noch 10 Minuten Zeit für diese Erfahrung. Um an meine Grenzen zu gehen, um abzuschalten, um weiteres Unbekanntes zu erkunden. 
Vom Joggen fange ich wieder an zu laufen. Schneller und schneller. Ich rechne damit, dass ich bald müde, dass ich langsamer werde, aber meine Beine tragen mich. Ich laufe immer leichter, immer schneller und freier. Ich genieße die letzten 10 Minuten meiner Freiheit. Ich bin nicht mehr müde, und ich will nicht mehr, dass diese 12 Stunden vergehen, ich laufe einfach schneller und schneller. Und ich weiß, dass dies das Gefühl der Freiheit ist.
 
Die Jungs klatschen und winken. Es sind noch zwei Minuten von dieser Freiheit übrig, aber ich bleibe stehen. Mein Mann Christian sieht mich fragend an. Vielleicht, weil ich es kann. Weil wahre Freiheit darin besteht, dass ich mir aussuchen kann, ob ich diese verbleibenden zwei Minuten allein oder mit den drei wichtigsten Männern in meinem Leben verbringe. Also laufen wir gemeinsam weiter, und es ist egal, wie weit wir kommen oder wie schnell wir sind. Wichtig ist nur, dass wir heute etwas gelernt haben. Etwas Neues über uns selbst, über die anderen, über die Welt und darüber, was es bedeutet, frei zu sein. 
 
21:00 Uhr: Ich liege im Zelt. Mein Magen knurrt und ich weiß, ich sollte dehnen, aber wenn ich mich bewege, wird sicher einer der Jungs wach. Schließlich stehe ich doch schnell noch auf, finde einen Schokoladenmüsliriegel, stopfe ihn mit ein paar übrig gebliebenen Chips in mich hinein, schlucke eine Magnesiumtablette und trinke einen halben Liter Wasser dazu. Das ist doch fast ein richtiges Abendessen geworden. Während ich Zähne putze, dehne ich noch schnell meine Oberschenkel. Ich finde eine von unseren Gästen übriggebliebene „Waldschlössl“-Gesichtscreme in meiner Tasche und schmiere mein Gesicht und - nach kurzer Überlegung - die Füße auch ein. Man lebt nur einmal, heute habe ich mir eine kleine Verwöhnung verdient! Nach ein paar Minuten schlafe ich in der Hoffnung ein, dass mich heute niemand mehr aufwecken wird.
 
Vielen lieben Dank für diese Erfahrung an alle, die mich auf dem Weg begleitet oder uns in irgendeiner Weise geholfen haben, vor allem meiner Schwester Gabi, die in der Zwischenzeit fast den ganzen Betrieb im Waldschlössl an der Rax übernommen hat, meiner Mama und Christians Eltern, die die längeren Läufe ermöglicht haben, Péter Poór und der Familie Lukácsy-Gudics für die Ratschläge und sowieso, und allen Mitgliedern des ULT Heustadlwasser, die mich mit einem Tipp oder einem netten Wort motiviert, mit den Jungs gespielt, eine meiner Wasserflaschen aufgefüllt oder diesen Text korrigiert haben. Und natürlich an die Jungs und meinem Mann, ohne Christian wäre es nicht möglich gewesen. Danke!
 
23:30 Uhr: Ich versuche herauszufinden, welches der Kinder aufgewacht sein könnte. Alles geht weiter wie gewohnt. Und das ist gut so.
 
Bilder: Manuela Rabong, Martin Wustinger, Thomas Engel, Zita Schneider