Es passiert ja nicht so häufig, dass ein einziger Lauf ausreicht, um in gleich zwei Ergebnislisten aufzuscheinen. Corona und das neue Format der „Virtual Runs“ machen es möglich. Doch um es vorwegzunehmen: Aus meiner persönlichen Warte ersetzen diese Läufe nicht jene, die wir gewohnt sind, mit dem Flair der Startnummer, der Startlinie, der Zielankunft, der Gemeinsamkeit. Mit anderen zu laufen spornt an, sie sind Referenzpunkte, Motivatoren, Pacer. Aus diesen und anderen Gründen gibt es, hoffentlich, bald ein „back to normal“. Und ich denke, dass ich mit dieser Einstellung nicht alleine dastehe.
Am 13. Juni hätte die vierte Ausgabe des Stelviomarathons stattfinden sollen, er wurde, wie viele andere Events auch, abgesagt. „Kommst du dennoch und läufst den Virtual Run auf der Originalstrecke?“, hatte mich vor Wochen schon Peter Pfeifer, der Präsident des Organisationskomitees gefragt. Ich zögerte, erst nachdem meine Rückkehr nach Österreich ohne Restriktionen möglich war, sagte ich zu. Und ich entschied, ein „Stelvio Triple“ zu laufen: am Freitag den Jochlauf (26 km, 2100 Hm), am Samstag den Marathon (42 km – die letztlich 45 wurden -, 2500 Hm), und Sonntag die Short Distance (14,5 km, 1200 Hm).
Den Freitag hatte ich mehr schlecht als recht hinter mich gebracht – wieder einmal aß ich zu wenig, und die Motivation litt aufgrund der wegen Schneeräumungen gesperrten Passstraße, womit das Erreichen der Jochhöhe verunmöglicht wurde. Für die Distanz benötigte ich über sechs Stunden, und einmal zurück zu Hause in Burgeis stopfte ich mich mit Nudeln voll.
Diese gab es auch in der Früh des nächsten Tages, drei Stunden vor dem Start des Marathons. Um 8 Uhr traf ich mich mit einigen anderen Läufern in Prad, doch nachdem der (reale) Virtual Run-Startschuss gefallen war, zogen die anderen wie von Taranteln gestochen weg, während ich eine gemächliche 6-Minuten-Pace einschlug. Ich dachte an Alexandra, mit der ich bei „Corona gegen Ultras“ ein 50-km-Team bildete und daran, wie sehr Laufen verbindet, wo immer man ist. Ich dachte an Anne, Walter und Josef und andere, die ebenfalls gegen Corona liefen und für den Stelviomarathon.
Mein Ziel war einerseits, eine Durchschnittspace von unter zehn Minuten zu erreichen, was ich mit 9:53 Minuten auch erreichte. Doch andererseits blieb ich mit 7:30:30 Stunden für 45,56 km über meinen Hoffnungen, das virtuelle Ziel, nun bei geräumter Straße auf dem Pass, in rund sieben Stunden zu erreichen. Die Zeit war letztlich vielleicht nicht das Wichtigste. Wichtiger war, ein paar Kilometer mit Dunja Pitscheider, einer Südtiroler Laufgöttin, unterwegs gewesen zu sein, die Natur oberhalb der Baumgrenze auf dem Goldseeweg inhaliert, mit Freiwilligen bei „Überraschungs“-Laben in Stilfs und bei der Furkelhütte geplaudert, auf dem Stilfserjoch die eine oder andere Träne der Erleichterung und Erinnerung verdrückt zu haben.
„Der Lauf war drei, vier Kilometer zu lang“, sagte ich Peter Pfeifer später. Dieser zuckte nur mit den Achseln. „Einen Bergmarathon kannst nie genau vermessen.“
Tag drei brachte den Berglauf von Trafoi auf das Stilfserjoch, wobei 45 Kehren bewältigt werden mussten. Für diese Übung hatte ich einen Pacer der Extraklasse gefunden – meinen zwölfjährigen Neffen Aaron, der zu den besten Ski-Langläufern seiner Altersklasse in Südtirol zählt und Berglauf-erfahren ist. Doch ich dachte mir: Sechs, sieben Kilometer werden wir laufen, und den Rest wandern. Wir starteten mit Kilometerzeiten zwischen neun und zehn Minuten und ich war mir sicher, dass es später langsamer würde. Das Gegenteil war der Fall, Aaron wurde schneller, je näher das Ziel kam. Ich bemühte mich, an ihm dranzubleiben, was mir auch deswegen gelang, weil der Junge Empathie für den Alten verspürte und mich nicht in Grund und Boden lief. Nach 2:10 Stunden und einer Durchschnitts-Pace von 9:01 Minuten/km waren wir auf dem Joch und klatschten zufrieden und glücklich ab.
90 Kilometer, rund 5600 Höhenmeter in 15:50 Stunden sind zumindest unter dem quantitativen Aspekt eine Ausbeute, mit der ich zufrieden bin. Da waren Licht und Schatten dabei, Momente des Verlaufens im Wald und des Lernens auf technischen Trails, Augenblicke der Depression und des Dopamins. Eben alles, was das (Trail-)Laufen so ausmacht.
Der Laufkalender 2021 ist für mich wie für viele andere bereits jetzt prall gefüllt. Der Stelviomarathon hat einen Fixplatz, und ich hoffe, dass viele meiner ULT-Vereinskollegen und –kolleginnen am 19. Juni kommenden Jahres mit mir an der Startlinie stehen werden. Jene, die bereits dort waren, können es bestätigen: Es zahlt sich auf alle Fälle aus!