 
Andrii Tkachuk stand bei der Essensausgabe im Pavillon d´Honneur am Abend vor der WM in Albi unmittelbar vor mir in der Warteschlange.
Ein baumlanger Kerl, ca. 1,95 m groß, struppeliger Vollbart, buschige Locken, unverkennbar. Ich sprach ihn an und fragte, ob er aus der Ukraine sei. Er bejahte lächelnd und ich sagte: „Wait, I want to show you something.“ Ich hatte in meiner Tasche zufällig das Runners World Magazin vom Sommer dabei, in dem eine etwa zehnseitige Reportage über Tkachuk war. Er war überrascht, er kannte die Story auf Deutsch nicht aber ließ sich bereitwillig von ein paar anderen Läufern mit dem Magazin und seinem Foto darin fotografieren. Ich fragte ihn, ob er noch immer Soldat im Kampf gegen Russland sei. Er nickte und meinte, möglicherweise müsse er im Jänner wieder an die Front.
Tkachuk ist nicht irgendwer. Die Story war so inspirierend, dass ich das Magazin zur WM mitnahm. Er war 2023 in Taipeh WM-Dritter, obwohl seine Vorbereitung damals schlecht war weil er bereits im Kriegseinsatz war. 2016 lief er als 31-Jähriger seinen ersten 24h-Lauf und schaffte 201 Kilometer. 2019 bei der WM, ebenfalls in Albi, lief er bereits 263 km und wurde Zehnter mit ukrainischem Rekord. 2021 lief er bei einem 48h-Rennen 435 km. 2023 bekam er erst wenige Tage vor der WM in Taipeh die Freigabe aus dem Verteidigungsministerium, dass er von der Front direkt zur WM durfte. Sein Kommandant fragte ihn, was er wohl für Beziehungen im Ministerium hatte, aber er durfte weg. Und trotz massiven Trainingsrückstands lief er 294 km und wurde Dritter. Nach seiner Rückkehr – ab in den Krieg.
Für mich war Andrii einer der Favoriten für die WM morgen. Noch dazu war Weltrekordhalter und Titelverteidiger Aleksandr Sorokin wegen einer Verletzung nicht am Start. Aber der WM-Zweite von 2023, der Grieche Fotis Zisimopoulos, war dabei und er hatte schließlich drei Mal den Spartathlon über 246 km von Athen nach Sparta gewonnen. Kann man so einen Typen überhaupt schlagen? Und auch der heurige Spartathlon-Gewinner, Radek Brunner aus Tschechien, nahm teil. Allerdings fand der Spartathlon nur drei Wochen vor der WM statt, eigentlich zu wenig Zeit, um ausreichend zu regenerieren.
Albi, nie gehört. So geht es wahrscheinlich den meisten, denen man von der 50.000-Einwohner-Stadt ca. 65 km nördlich von Toulouse in Südfrankreich erzählt. Aber Albi, oh lá lá!. Wunderschöner, mittelalterlicher Stadtkern mit engen Gassen, netten Bistros und Markthalle. Drei Brücken über den Fluss Tarn vermitteln wunderbare Ausblicke auf das Stadtzentrum. Berühmtester Sohn der Stadt ist der Maler Henry Toulouse Lautrec (1864-1901), dem ein interessantestes Museum gleich neben der Kathedrale im Berbie Palast gewidmet ist. Aber wir, das Nationalteam für die 24h-WM, waren ja nicht zum Sightseeing angereist, sondern um in 24 Stunden möglichst viele Kilometer zu laufen.
Ich bin Donnerstag Vormittag mit Air France und Umsteigen in Paris nach Toulouse geflogen. Zum Glück mit kaum Problemen, denn meine Mannschaftskolleg:innen, die alle bereits Mittwoch angereist waren, hatten zum Teil deutliche Verspätung und auch Ärger mit dem Shuttlebus vom Flughafen Toulouse zum Hotel in Albi. Das Mittelklassehotel Campanile war dann ok, vor allem fußläufig nahe zur Altstadt wie auch zum Wettkampfstadion. Und das Frühstück war ausgezeichnet.
 
Unser Frauenteam war mit der mehrfachen Staatsmeisterin Karin Freitag und der zweimaligen Spartathlon-Siegern Diana Dzaviza sehr gut besetzt. Dazu kam mit Sabrina Lederle trotz ihrer Jugend eine sehr erfahrene Läuferin mit bereits 4 WM- und einer EM-Teilnahme. Weiters Ilse Fritz, ein Wunder an Ausdauer und Härte, die bei der letzten WM in Taipeh 2023 Vizeweltmeisterin in ihrer Altersklasse wurde, obwohl sie sich während des Laufs bei einem Sturz den Finger gebrochen hatte und mehr als eine Stunde pausieren musste.
Das Männerteam hatte zwar nicht die Erfahrung der Kolleginnen, sieht man vom extrem vielseitigen Rainer Predl ab, aber dafür viel Potential, was sich durch zahlreiche persönliche Bestleistungen zeigen sollte. Mit dabei waren Stefan Greiner, Wolfgang Millinger, der Staatsmeister 2025 mit 204 km Julian Mitteröcker, Rainer Predl, Mario Sturmlechner, Christian Vollenhofer-Rohlfing und ich.
Das Wetter in Albi war kitschiger Herbst mit 22-23 Grad und blauem Himmel jeden Tag. So auch am Renntag, Samstag, den 18. Oktober. Start war um 10 Uhr. Als ich um halb 8 zum Frühstück ging, saßen schon alle anderen im Bus Richtung Stadion. Ich wollte aber nicht so früh dort sein und bei 10 Grad im Freien zwei Stunden auf den Start warten. Aber zu knapp durfte es dann auch nicht sein, denn alle Teilnehmer:innen mussten vor dem Start ihre Zeitnehmungschips auf Funktionstüchtigkeit checken lassen, die interessanterweise wie früher an den Schnürsenkeln der Laufschuhe zu befestigen waren und nicht wie heute international üblich in die Startnummer integriert waren. Wir bekamen gleich vier Startnummern, anzubringen am Leibchen vorne wie auch rückwärts, plus zwei in Reserve für einen allfälligen Leibchentausch. Sollte ich nicht brauchen...
 
In unserem Betreuungszelt neben der Stadionlaufbahn, alfabetisch geordnet zwischen Australien und Belgien, kam dann so gegen eine Stunde vor dem Start doch immer mehr Vorfreude und Anspannung auf. Jeder versuchte sich bestmöglich mit seinen Betreuer:innen abzustimmen, man positionierte seine Getränke, Gels, Riegel, etc. wie bei einem Boxenstopp in der Formel, um beim Vorbeilaufen möglichst wenig Zeit und Nerven zu verlieren. Bei strahlend blauem Himmel, nach kurzem Aufwärmen und Teamfotos war es um Punkt 10 Uhr so weit. Beim Startbogen auf der Laufbahn versammelte sich die Weltelite der Ultraläufer:innen zum Höhepunkt des Jahres und wir – nicht ganz Weltelite – durften dabei sein. Dabei ist anzumerken: bei den Männern hält den Weltrekord Aleksandr Sorokin aus Litauen mit unfassbaren 319 km, bei den Frauen bis zu diesem Tag die Japanerin Niko Mahata mit 270 km. Beide wurden auch am Vortag bei der stimmigen Eröffnungsfeier mit Umzug durch die Altstadt von Albi als Welt-Ultraläufer:innen des Jahres ausgezeichnet.
 
Startschuss! Vorne die Schnellen, die Optimistischen, die Favoriten und ja, auch die Übermütigen. Georg Mayer, unser Teamleader und ÖLV-Ultralaufreferent mit viel Erfahrung, hatte uns vor einem zu schnellen Anfangstempo gewarnt, vor allem wegen der steigenden Temperaturen in den ersten sechs Stunden. Das hätten andere Leader Ihren Läufer:innen auch einbläuen sollen. Die ersten 5 bei den Männern nach 6 Stunden, also einem Viertel des Rennens, mussten alle ihrem Tempo Tribut zollen und zum Teil sogar aufgeben. Pascal Rueger aus der Schweiz übernahm früh die Führung und hatten nach 6 Stunden bereits 85,5 km auf dem Konto, gefolgt vom Slowaken Michal Sula mit 84 km. Das muss man sich einmal vorstellen: beide sind in 6 Stunden zwei Marathons gelaufen, den ersten unter 3 Stunden und dann gleich noch einen unter 3 Stunden und das bei sonnigen 23 Grad! Selbst für 99,9 % der Marathonläufer ist das unvorstellbar bzw. nicht zu laufen. Der Spanier Felix Pont folgte nur einen Kilometer dahinter auf Platz 3 und auch Vizeweltmeister Fotis Zisimopoulus war noch dran. Mich überraschte, wie oft ich von diesen Läufern in den ersten Stunden überrundet wurde. Da kommt man sich richtig klein vor. Aber kann das gut gehen? Tat es nicht: Rueger machte nach 96 km schlapp und wurde 346 von 366 Finishern und von allen Österreicher:innen – auch von denen, die noch aufgeben mussten – geschlagen. Nicht ganz so schlimm erging es Spartathlon-Dominator Zisimopoulus, doch mit gelaufenen 187 km und Platz 207 (Männer und Frauen) blieb er weit hinter seinen Möglichkeiten und wurde auch von vier Österreichern deutlich geschlagen. So viel zu Übermut. Einige meinen zwar, wenn man so ein Rennen gewinnen will, muss man All in gehen, aber so logisch das in einer anderen Sportart klingen mag... in 24 Stunden kann so viel passieren, körperlich, mental, Wetterumschwung, Temperaturwechsel, dass man es mit einem zu schnellen Anfangstempo wirklich ordentlich verbocken kann. Hat auch schon jeder Läufer erlebt, aber in der Anfangseuphorie und mit meist hohen Zielen will man gut laufen und sich nicht rational auf ein ungewohnt langsames Tempo runterbremsen. Auch wenn es taktisch schlau wäre.
 
Meine Taktik und meine Ziele waren: 1. Schau ma mal! 2. Die ersten ein bis zwei Stunden einen Kilometerschnitt von 6 Minuten oder knapp darunter zu laufen, solange es noch kühler war und spätestens ab 12 Uhr bewusst 30 Sekunden pro km langsamer zu laufen. 3. 200 km sollten es schon werden... Der Streckenverlauf entsprach einer Stadionrunde, dann raus an der offiziellen Labestation vorbei um einen Trainingsplatz herum und wieder zurück ins Stadion. Machte 1,5 km aus. Im Stadion war bei der Zeitnehmungsmatte eine große Anzeigetafel, auf der man in Echtzeit seine Rundenzeit und Platzierung kontrollieren konnte.
Natürlich war ich am Anfang viel zu schnell. Als ich noch am Vorabend übermütig dem etwas skeptischen Georg meine Taktik erklärte und meinte, ich könne nach zwei Stunden problemlos wegen der steigenden Temperaturen mein Tempo um 30 Sekunden drosseln, sollte sich das als schlichtweg falsch erweisen. Ich musste Franz, meinen Betreuer, bitten, mich in den nächsten Runden beim Vorbeilaufen zu erinnern, langsamer zu laufen. Klingt für einen Nicht-Wettkampfläufer völlig absurd, aber bei einer WM ist man ehrgeizig. Und solange man im Wohlfühlmodus ist, also ein lockerer Laufstil mit geringem Puls, will man diesen ungern verlassen. Vor allem hat man eine gewisse Schrittfrequenz bzw. seinen Rhythmus intus, bei dem sich ein langsameres Tempo fast schon wie Gehen anfühlt. Ich schaffte es dann doch, meine Kilometerzeiten auf ca 6:30 zu reduzieren, was sich noch als sehr wichtig herausstellen sollten.
Meine Durchgangszeiten waren nach:
5 km: 29 min
10 km: 59 min
Halbmarathon: 2h 2 min
Marathon: 4h 14 min
6 Stunden: 59 km
2 Marathons: 8h 50 min
100 km: 10h 32 min
12 Stunden (Halbzeit): 112 km
3 Marathons (126,6 km): 13h 32 min
Danach verlor ich den Überblick...
 
Ich war sehr zufrieden. Ich hatte keinen Einbruch, weder körperlich noch mental, der 2. Marathon war mit 4h 36 min ok, der 3. mit 4h 42 kaum langsamer. Meine Durchgangsdistanz bei Halbzeit mit 112 km war gut, in Zeltweg in Frühjahr bei meinem Rekord von 216 km hatte ich zwar nach 12 Stunden schon 116 km, doch da war der Start um 18 Uhr, es war frisch und wurde jede Stunde kühler. Außerdem hatte ich gelesen, dass bei der letzten WM in Albi 2019 die Männer im Schnitt 189 km liefen, aber allein 114 km in der ersten Hälfte und nur noch 75 in der zweiten. Das sollte zu toppen sein (Zum Vergleich: die Frauen liefen bei der WM 2019 – neuere Werte nicht verfügbar – im Schnitt 175 km in 24 Stunden, 105 km in der ersten und 70 km in der zweiten Hälfte).
Was jetzt? Ich wartete auf den Flow. Doch nach 50, 60 und 70 km kam nichts. Komisch, stattdessen machte sich eine gewisse Müdigkeit bemerkbar. Nachdem die Temperatur gegen 16 Uhr ca. 23 Grad erreichte, bekam ich zum ersten Mal Krämpfe in der hinteren Oberschenkelmuskulatur an beiden Beinen. Nachdem ich dreihundert Meter auf flottes Gehen umgestellt hatte, begann ich wieder vorsichtig anzulaufen und siehe da, keine Krämpfe mehr. Und dann, ca. nach 88 km, plötzlich der Flow!
Ich kann schwer bestimmen, warum in dieser Rennphase. Vielleicht weil ich mich der 100 km-Marke näherte, was motivierte, und auch, weil es kühler wurde. Jedenfalls war mein Schritt plötzlich leicht, die Atmung gut und die Beine liefen wie von selbst. Meine Kilometerzeiten ab km 88 waren 6:40, 6:28, 6.21, 6:06, 6:25, 6:00, 5:49, 6:00 und 5:54.
Dann war allerdings Schluss mit lustig. Nach 100 Kilometern ist immer etwas die Luft draußen, weil man diese extreme Distanz geschafft hat. Die folgenden Kilometer pendelten sich wieder um 6:30 min pro km ein.
Nach 12 Stunden freut man sich, die Hälfte hinter sich zu haben - und denkt sich: „Scheiße, noch immer 12 Stunden!“ Und war ich zu schnell auf der ersten Hälfte?
Konnte ich mein Tempo auf der 2. Hälfte halbwegs halten? Die gelaufenen 100 km in Zeltweg im Frühjahr auf der zweiten Hälfte machten Mut, ich wusste, hier in Albi hatten wir die warmen Temperaturen hinter uns. Beim Zielschluss um 10 Uhr würde es um die 12 Grad haben.
Bei meinen Teamkolleg:innen spielten sich Dramen ab. Karin Freitag, unsere Rekordhalterin, hatte schon nach 40 km Probleme mit den Achillessehnen, ihre Schmerzen wurden von Runde zu Runde sichtlich schlimmer. Sie kämpfte tapfer weiter, doch nach 13 Stunden und dafür tollen 126 km musste sie schließlich aufgeben. Es machte keinen Sinn mehr, sich mit zunehmenden Schmerzen über noch viele ausstehende Stunden weiter zu quälen ohne Aussicht auf eine für sie gute Kilometerleistung. Hier muss man ihr auch Respekt zollen erkannt zu haben, dass die Gesundheit einfach wichtiger ist.
Nicht besser lief es für Staatsmeister Julian Mitteröcker. Er hatte Blut im Harn und musste auf ärztliches Anraten nach 102 km aussteigen. Für ihn als Debütant eine sehr schmerzliche Erfahrung. Aber er ist noch jung mit viel Potential und einer Erfahrung, die ihm niemand nehmen kann.
Rainer Predl lief die erste Hälfte starke 134 km, konnte aber sein Tempo auf der zweiten Hälfte nicht mehr halten, schaffte dennoch gute 203 km damit Platz 5 in seiner Altersklasse M35. Wolfgang Millinger hatte seine Höhen und Tiefen – wie wir alle – aber blieb immer gut drauf und konnte so sogar seine persönliche Bestleistung (PB) auf 173 km steigern und damit Platz 4 in der Altersklasse M55 erreichen. Dasselbe gelang Markus Gabriel mit PB von 209 km (Rang 5 AK M50), Mario Sturmlechner mit 219 km (Rang 10 AK M40) und unserem Besten Stefan Greiner mit 233 km (Rang 9 AK M40). Stark unterwegs auch der geborene Kämpfer Christian Vollenhofer-Rohlfing, der sich trotz muskulärer Probleme in den Oberschenkeln auf 150 km kämpfte (Rang 12 AK M50). In der Teamwertung belegten die österreichischen Männer (nur die besten 3 Läufer werden gewertet) damit Platz 19 von 41 Nationen mit 669 Kilometern.
Bei den Frauen begann unsere zweifache Spartathlon-Siegerin Diana Dzaviza sehr ambitioniert und lief trotz großer körperlicher Probleme in den letzten Stunden hervorragende 231 km und damit neuen österreichischen Rekord! Das bedeutete Platz 20 von 161 Frauen im Ziel (Rang 4 in der AK W35). Sabrina Lederle, ein Mentalitätsmonster, immer mit einem Lächeln auf den Lippen, ließ sich auch von heftiger Übelkeit und oftmaligem Erbrechen nicht aufhalten und lief für diese Umstände unfassbare 189 km. Die 200 km sind nur eine Frage der Zeit.
Die unvergleichliche Ilse Fritz aus Oberösterreich vom ASKÖ Laufwunder Steyr – sie ist selber das beste Aushängeschild für den Verein – hat mit 154 km trotz schwieriger, verletzungsbedingter Vorbereitung und Schmerzen im Oberschenkel die beste altersadäquate Leistung von uns allen erbracht und wurde Vizeweltmeisterin in der AK W60 wie schon vor zwei Jahren. Chapeau, würde man in Frankreich sagen! Das Frauenteam belegte damit Platz 18 von 29 Teams mit 574 Kilometern Gesamtleistung.
 
An der Spitze ging es rund! Bei den Frauen fiel die nach sechs Stunden führende Holländerin Mascha Rondhuis zurück. Weltmeisterin Miko Mahata wirkte bärenstark und es sah gut für die Titelverteidigung aus. Und tatsächlich konnte sie Ihren Weltrekord noch um einen Kilometer auf 271 km verbessern. Doch das war an diesem legendären Tag nicht genug, denn sie wurde gar nur Dritte! Man stelle sich mal vor: da stellt man einen neuen Weltrekord auf und dann schafft man es gerade noch aufs Podium.
Denn die Australierin Holly Ranson lief ein beeindruckendes Rennen und schaffte mit 274 km noch zwei Runden mehr als Mahata. Das wäre der Sieg und neuer Weltrekord gewesen. Doch da war noch Sarah Webster. Die Britin hatte bereits nach 23 Stunden den alten Weltrekord übertroffen und schaffte schließlich 278 km, d.h. 7 km mehr als Mahata bei Ihrem bisherigen Rekord! Und nicht nur das: es war erst ihr zweiter 24h-Lauf, den ersten lief sie bei den britischen Meisterschaften im Frühjahr und schaffte dort 243 km. D.h. sie übertraf ihre Bestleistung um 35 km, Kilometerschnitt 5 min 11 Sekunden! Zum Vergleich: Webster war damit besser als 201 der 205 Männer, belegte also gesamt Platz 5! Ranson und Mahata belegten gesamt die Plätze 8 und 9 von 366 Finishern, d.h. die drei besten Frauen waren besser als 97% der Männer!!
Und die deutsche Sigrid Hoffmann, die auch in Bad Blumau vor vier Jahren gelaufen ist und mit der ich einige Zeit unterwegs war, immer locker und lächelnd, stellte in ihrer Altersklasse W60 einen neuen Weltrekord mit 218 km auf.
 
Ich kämpfte mich durch die Nacht und die sollte lange dauern, denn Sonnenaufgang war erst um 8 Uhr 10. Das war hart für mich, weil ich kein Nachtläufer bin, doch zum Glück war die Strecke gut beleuchtet. Meine Kilometerzeiten sanken nach 13 bis 14 Stunden Laufzeit, also gegen Mitternacht, auf knapp über 7 min. Zu diesem Zeitpunkt machte sich zunehmende Ermattung breit. Es war herausfordernd, Motivation und Tempo hoch zu halten, wenn das Ziel noch zehn Stunden entfernt ist. Das einzige, was mich in dieser Phase anspornte, war die stetige Verbesserung in der Gesamtwertung. Nach jeder Runde, also ca. alle 10-11 Minuten, sah ich auf der Anzeigetafel meine Platzierung, die sich von anfänglich um Rang 180 auf inzwischen Rang 120 reduziert hatte. Jetzt waren mein Ziel die Top 100, das gab Motivation.
Als dann nach ca 18 Stunden tatsächlich die 99 aufleuchtete, ballte ich die Faust und stieß einen leises „Yeahhh“ aus. Ein paar Tage vor der Abreise hatte mich noch eine Kollegin gefragt, was mein Ziel bei der WM sei und ich meinte, Top 100 wären cool.
Das hatte ich jetzt erreicht, wenngleich mich natürlich auch wieder welche wiederholen konnten. Es waren ja noch 6 Stunden bis zur Ziellinie, da würden auch manche wieder munter werden. Doch ich machte weiter Boden gut, weil viele nur noch gehen konnten oder sich sogar übergeben musste. Magenprobleme waren weit verbreitet.
Platz 95, 90, 85... drei Stunden vor Schluss war ich wieder im Flow! Ich realisierte, dass ich meine persönliche Bestzeit von 216,7 km verbessern konnte, wenn ich keine Gehpausen mehr einlegen brauchte und das Tempo halten konnte. Zwei Stunden vor Schluss rundete ich mich sogar gegenüber dem späteren Sieger zurück, der gehen musste oder wollte, auch weil er wusste, dass er gewinnen würde. Das war mir egal, ich hatte soeben auf den großen Andrii Tkachuk eine Runde aufgeholt, der mir zuvor stundenlang um die Ohren gelaufen war! Da war ich kurz baff.
Nach 23 Stunden hatte ich 207 km „am Tacho“, das war bereits die zweitlängste Distanz, die ich jemals in 24 Stunden gelaufen war. Ich hatte genau 62 Minuten Zeit für 10 Kilometer, um meine persönliche Bestleistung auf 217 km zu steigern. Das würde sehr hart werden, aber nicht unmöglich. Ich redete mir ein, dass ich auf jeden Fall noch Reserven hatte, ich war nicht so kaputt, um nicht mehr daran glauben zu können. Ich hoffte, dass ich noch ein paar Kilometer unter 6 Minuten laufen konnte, wenn es notwendig wäre. Andererseits versuchte ich, nicht zu sehr aufs Tempo drücken, um keinen Einbruch zu erleiden. Hätte sich nicht mehr ausgezahlt nach 23 Stunden, auch nicht stehen bleiben für Verpflegung oder gehen – keine Option. Die letzte halbe Stunde gab es dann keine Zurückhaltung, he, das war die WM!
Bei der letzten Runde durchs Stadion zeigte mir die Anzeigetafel 216 km nach 23 Stunden, 53 min und 45 sec.. Ich hatte also 6 min 15 sec für 800 Meter und die Bestleistung. Ich wusste, das ging sich sicher aus und flog über die Laufbahn. Auch beim Mannschaftszelt feuerten mich alle an, danke nochmals!! Jetzt wollte ich 217 km laufen, macht sich optisch besser als 216,8.
Dann am Sonntag, 10 Uhr, nach 24 Stunden fast ununterbrochenem Laufen, 2 Minuten Pause für Essiggurkerl essen, 4-5 Mal 200 Meter gehen während ich einen Riegel runterwürgte und nur drei Toilettengängen, ertönte die Schlusssirene. 217,2 Kilometer. Ungeheure Befriedigung. Kurz vor dem Kreislaufkollaps.
Ich habe mich sofort hingelegt und meine Beine hoch gelagert, ca. eine Stunde lang. Alle waren fertig, im wahrsten Sinn des Wortes, aber auch erleichtert, glücklich und dankbar, dabei gewesen zu sein und es geschafft zu haben.
Glücklich war auch Andrii Tkachuk. Er war der strahlende Sieger mit 294 Kilometern, überlegen mit knapp 9 Kilometern Vorsprung auf den Norweger Jo Inge Norum mit 285 km und den Finnen Matti Jonkka mit 283 km.
Wir packten unsere Sachen zusammen, gingen etwas essen im Pavillon und zur Siegerehrung. Da habe ich dann erfahren, dass ich in meiner Altersklasse M55 Dritter geworden war, auch das noch! Aufruf im vollen Saal, Applaus, Handshakes, Medaille, Fotos, Glückwünsche... das volle Programm.
Dann zurück ins Hotel. Jetzt waren Duschen und ein paar Stunden Schlaf angesagt. Ich war die ganze Nacht nicht einmal müde, zu viele Endorphine. Mein Kaputtsein hielt sich dennoch in Grenzen. Erste Glückwunsch-SMS trafen ein.
Am Abend chillte ich noch in einem Pub und einem französischen Restaurant, relaxed und glücklich, meine eigenen Erwartungen übertroffen zu haben.
 
Am Montag beim Frühstück wurde mit den Kolleg:innen natürlich alle möglichen „G´schichtln“ ausgetauscht, fast alle wieder halbwegs gut regeneriert. Das Wetter hatte umgeschlagen, es nieselte. Doch wir hatten vor dem Abflug am späten Nachmittag noch einige Stunden Zeit für Souvenirs und ein Mittagessen im Zentrum.
Die Abreise gestaltete sich etwas chaotisch. Entgegen der ursprünglichen Ankündigung sollte uns der Bus nicht vom Hotel, sondern vom 2 km entfernten Stadion abholen. Nach 15 Minuten Warten beim Stadion bekamen wir die Info, dass der Bus doch zum Hotel kommt und nicht zum Stadion. Also wieder retour, zum Glück gab es dieses Mal ein Shuttle. Am Flughafen in Toulouse beim Check in bekamen Sabrina, Markus und Mario wegen Überbuchung keinen Boarding Pass. Zittern bis 20 min vor Abflug, doch dann Erleichterung, sie durften in den Flieger.
Beim Umsteigen in Paris hatte der Anschlussflug mit Air France nach Wien 30 Minuten Verspätung, doch das war schon jedem egal. Müde kamen Diana, Sabrina, Markus, Mario und ich kurz vor Mitternacht in Wien an, gemeinsam mit dem slowakischen Team.
Die WM war für fast alle ein großer Erfolg. Tolle Rekorde bei den Frauen, ein neuer Weltrekord, ein neuer österreichischer Rekord. 6 von 12 österr. Teilnehmer:innen stellten eine persönliche Bestleistung auf. Zieht man die beiden ab, die nach etwa der Hälfte aufgeben mussten, waren es sogar 6 von 10, also 60%! Eine Wahnsinnsleistung.
Es waren vier intensive Tage in Südfrankreich: eine Überdosis Anstrengung und Emotionen, gutem Essen und Trinken, faszinierende Läuferpersönlichkeiten und Ausnahmeathlet:innen. Und das ist eine der schönen Facetten beim 24h-Lauf: die Weltbesten, die Charismatischsten, sind wegen des Rundkurses immer um dich herum, meist vor dir, manchmal auch hinter dir oder auch neben dir. Nicht weit entfernt wie bei Stadtmarathons oder anderen Sportarten. Es ist anstrengend, klar, aber die Vielfalt an Emotionen, Erwartungshaltungen, Enttäuschungen, Hochs, Tiefs, Zweifeln, Glücksgefühlen und das Anfeuern der Fans macht es zu etwas ganz Besonderem.
Bis zum nächsten Mal.
P.S.: Ilse Fritz musste noch auslaufen und spulte eine Woche nach der WM den Dresden Marathon in 4 Stunden 33 min herunter...
