Bist du deppat! So schwere Oberschenkel hatte ich schon sehr lange nicht mehr nach einem Lauf. Noch dazu musste man nach der Ziellinie noch ca. 30 Stufen raufsteigen, um seine Sachen von der Garderobe zu holen bzw. zu duschen. Aber es war ja auch nicht irgendein Laufevent, sondern die 65. Auflage der 100 Kilometer von Biel in der Westschweiz.
Die mittelgroße Stadt am Bieler See unweit der französischen Grenze besticht durch den Charme einer kleinen historischen Altstadt im Schweizer Seeland, vergleichbar mit dem Alpenvorland in Österreich. Keine hohen Berge, aber hügelig, mildes Klima, Sitz des Swatch Konzerns und Veranstaltungsort der Bieler Lauftage.
Das Besondere: Start um 10 Uhr abends und ca. 1.000 Teilnehmerinnen und Teilnehmer allein beim 100-km-Lauf, dazu ein Staffelbewerb, Halbmarathon, 10-km-Lauf und Walking-Bewerb. Bei Letzteren ist der Start aber noch später, um 22.30 bzw. 22.45.
Durch die späte Startzeit konnte ich noch am selben Tag mit dem Zug ab Wien um 7 Uhr 30 anreisen mit Umsteigen in Zürich um 15.30. Wenn man dann um 16.45 in Biel ankommt, hat man noch immer mehr als fünf Stunden Zeit bis zum Laufbeginn.
Ich hab mir die Zeit in der Altstadt vertrieben, bin eine Kleinigkeit essen gegangen und hab mir etwas die Beine vertreten nach der langen Zugfahrt.
Start und Ziel sind am Stadtrand bei der Tissot Arena, einem Multisport-Stadium, das sich in gut zwanzig Minuten mit dem Bus vom Bahnhof erreichen lässt. Bei der Startnummernabholung gab es keinerlei Wartezeit, alles ist tip-top – wie die Schweizer sagen – auf engstem Raum organisiert mit Gepäcksaufgabe, Duschen, Cafes, Supermarkt, etc.. Zum Warten bzw. Relaxen kann man sich in einer Halle hinlegen, was auch viele getan haben. Ich hätte gerne ein bisschen vorgeschlafen, war aber – wie erwartet – gar nicht müde und habe dann auch Helmut Kastl mit seiner Frau Eva getroffen. Ein wahres österreichisches Marathon- und Ultralauf-Urgestein, bereits zum vierten Mal in Biel am Start. Auf die Frage, ob er einen speziellen Tipp für die hundert Kilometer hätte, meine Helmut: „Einfach ohne Stress weglaufen, relaxed in die Nacht hinein, bergauf eher gehen – 100 km sind lange...“
Punkt 22 Uhr Startschuss! Gute Stimmung, perfektes Wetter bei ca. 20 Grad, trocken, kein Wind. Helmut hat gemeint, wir sollten uns weiter vorne aufstellen, damit man auf den ersten Kilometern Richtung Innenstadt, wo es einige engere Passagen gibt, locker laufen kann. Das war auf jeden Fall eine gute Empfehlung. Ich war überrascht, wie viele Zuschauer, auch Kinder, bis Mitternacht entlang der Strecke waren und die Läuferinnen und Läufer großartig angefeuert haben. Die Kinder wollten abklatschen, die Jugendlichen hatten meist ein Bier in der Hand und manche hatten sogar einen Griller angeworfen. So ging es bis Mitternacht aus Biel hinaus in die umliegenden Orte mit ein paar kurzen Steigungen eher wellig auf Asphalt-Untergrund dahin, fast alles gut beleuchtet. Ich brauchte noch keine Lampe.
Das sollte sich nach ca. 20 Kilometern ändern, als wir zunehmend auf Feldwegen unterwegs waren. Nur noch vereinzelt haben sich jetzt die Läufer miteinander unterhalten, alle waren fokussiert auf Strecke und Untergrund, um nicht zu stolpern. Viele hatten gar keine Lampe, vor allem die Teilnehmer der Schweizer Militärstaffeln, bei denen sich fünf Läufer die hundert Kilometer aufteilten. Der Lauf ist beim Schweizer Militär sehr beliebt, es waren hunderte Armeeangehörige dabei, erkennbar an ihren langen Camouflage-Hosen.
Irgendwann habe ich dann Helmut verloren in der Dunkelheit, er hatte auch einen anderen Österreicher getroffen, mit dem wir noch einige Kilometer gemeinsam unterwegs waren.
Zur Organisation ist zu sagen, dass die Wegekennzeichnung mit Pfeilen, Lämpchen, Abzweigungen inkl. Streckenposten ganz hervorragend war. Die Schilder sind reflektierend, die Lämpchen sieht man von Weitem, die Abstände sind nur ein paar hundert Meter. Da kann man beim Wien Rundumadum noch einiges dazulernen, Einsicht vorausgesetzt. Labestellen inklusive Dixiklos gibt es alle 5-10 Kilometer. An den Laben alles, was das Herz begehrt, verschiedenste Getränke, Suppe, Tee, Gels, Riegel, etc., ja und sogar manchmal Linzer Tortenecken!
Nur nach der 48 km-Labe habe ich geflucht, denn es gab dann 10 km bei Dunkelheit keine, ich hatte mental wie körperlich ein Tief und musste auf die Toilette. Aber auch das ging vorüber. So konnte ich dann frisch gestärkt die zweite Hälfte in Angriff nehmen, gleich zu Beginn mit einer endlos scheinenden dunklen Waldwegpassage. Dafür, dass ich nicht gerne in der Nacht laufe, war ich bis zur Marathondistanz überraschend flott unterwegs mit 4 h 15 min. Mein Ziel war, über die 100 km unter 12 Stunden zu bleiben, aber dadurch, dass man oft zu zweit, zu dritt oder sogar in einer Gruppe läuft, tut man sich mit dem Tempo leichter und spart Kraft. Als ich nach 5 h 15 min bei 50 Kilometer ankam, dachte ich mir, das müsste sich mit den 12 Stunden ausgehen.
Für die nächsten 10 km brauchte ich 75 Minuten, die eine oder andere WC-Pause bzw. Labestation inklusive Gehpausen kosteten Zeit. Auch egal, ich versuchte locker zu bleiben und wusste, sobald es hell wird, tue ich mir wieder leichter. Das war dann nach ca. 65 km gegen 5 Uhr früh der Fall. Ich traf auf einen anderen Österreicher, Bernhard Bock aus Gmünd, der mir erzählte, dass es sein letzter 100er hier sein sollte. Er war schon oft hier, auch sein erster 100er war in Biel und so sah er diesen Lauf als würdigen Abschluss. Wir konnten einige Kilometer bei Sonnenaufgang ein schönes Tempo miteinander laufen, er wurde auch per Rad von seinem Cousin begleitet. Das ist eine Besonderheit in Biel, dass eine Radbegleitung bzw. Betreuung vom Veranstalter erlaubt wird, nach vorheriger Anmeldung. Aber es hilft mental und mit individuell abgestimmter Verpflegung schon sehr. Bernhard meinte, bei Kilometer 76 käme ein ziemlich langer Anstieg, eine echte Herausforderung gegen Ende hin. Bei der Labestation bei 70 km war ihm etwas übel und er sagte, ich solle ohne ihn weiterlaufen. Er wollte mal langsamer machen und schauen, ob es dann wieder besser ginge.
So rannte ich weiter, jetzt wieder großteils auf Asphalt, in eine herrliche Morgenstimmung hinein bei nach wie vor perfektem Laufwetter, da leicht bewölkt. Meine Beine waren auch nach 70 Kilometern noch ok, mental war ich gut drauf und gespannt auf den angekündigten Anstieg. Doch der kam nicht. Die Straße war jetzt meist eine lange Gerade und ging leicht bergauf, aber man konnte gut laufen. Kurz vor Kilometer 80 gegen halb 7 Uhr früh bemerkte ich dann in der Ferne eine größere Menschenmenge an der Strecke. Beim Näherkommen sah ich, dass es eine Wechselzone für die Militärstaffeln war, daher waren um diese Zeit dort schon jede Menge Wartende. Man lief in der Staffelübergabezone eine 90-Grad-Kurve, es gab eine Verpflegungsstelle und – da war er, der nicht mehr erwartete Anstieg! Aber die Straße war nicht allzu steil, ich überlegte noch, ob ich nicht gehen und besser Kraft sparen sollte für die letzten 20 Kilometer. Aber dann dachte ich mir, solange ich den Puls halbwegs niedrig halten kann und der Anstieg nicht zu lang ist, lauf ich. Und es waren tatsächlich nur etwa 500 Meter bergauf, dann ging es wieder flacher dahin und dann etwa vier Kilometer deutlich bergab. Dass es hier noch so gut lief, hat mich zusätzlich beflügelt. Mein neues Ziel war jetzt, unter 11 Stunden zu bleiben. Wenn ich auf den letzten 20 Kilometern einen Schnitt unter 7 min/km schaffen könnte, würde sich das ausgehen. Gegen halb 8 Uhr kam dann doch die Sonne raus und es wurde deutlich wärmer. Andererseits war die Strecke wieder wunderschön, kilometerlang einen Feldweg den Fluss Aare entlang bis nach Büren und dort über die historische Holzbrücke. Die letzten fünf Kilometer biegt man dann in einen schattigen Waldweg, richtig erfrischend und motivierend für den Schlussteil.
Nach 10 h und 47 min war ich im Ziel, Platz 88 von 572 männlichen Finishern und Platz 7 in der Altersklasse 55+. Ich war wirklich zufrieden, vor allem, weil es mir auf den letzten 30 Kilometern so gut gegangen war und ich keine taktischen Fehler gemacht hatte. Dazu kam die sehr gute Organisation, gute Stimmung bei Läuferinnen und Läufern, ein fantastisches Publikum - also ein toller Lauf!
Bei den Frauen gab es einen Schweizer Fünffacherfolgt, es siegte Claudia Bernasconi in 8h 25min vor Nadine Zaugg in 8:39 und Marianne Okle in 8:43.
Bei den Männern war der Schweizer Armin Flückinger in 6h 54min vor dem Franzosen Gabriel Noutari in 6:58 und einem weiteren Schweizer, Friedrich Splendore in 7:10 im Ziel. Der Österreicher Bernhard Allgäuer aus Hohenems gewann die Altersklasse M55 in 9:55.
Info: www.100km.ch